Ab und zu schreibe ich ja mal Kurzgeschichten. Meist, wenn mich tolle Wettbewerbe dazu inspirieren. Das Thema ‚Absinth – Im Bann der grünen Fee‘ vom ASP Verlag fand ich besonders schön.
Verlegerin Grit Richter musste aus 114 Geschichten wählen. Es ging um geschichtliche Persönlichkeiten, um Absinth, um Rausch und natürlich um jede Menge Feen. Mein schwebte letztendlich nicht in die Anthologie. Doch das ist nicht schlimm. Ich bin sicher, dass es 12 ganz wundervolle Feen geworden sind. Das heißt nun aber, dass ich meine mit euch teilen kann. 😀
Also wer es gern ein bisschen düster mag, wer dem Horror des großen H.P. Lovecraft nicht abgetan ist, der darf hier lesen. 🙂
Der Schlüssel zum Tor
von Helena Henriette Phillips Lovecraft
„I am the gate, I am the key.“
„Ich bin das Tor. Ich bin der Schlüssel“, murmelte mein Cousin während er weiter in die Dunkelheit des langen Flures vordrang, an dessen Ende die Tür zum hinteren Dachboden lag.
Schon seit Nächten hatten mich die schlurfenden Schritte auf dem abgewetzten Teppich aus dem Schlaf gerissen. Doch gefangen zwischen Traum und Erwachen, war ich nie rechtzeitig zur Tür gelangt, um die Quelle der Geräusche ausfindig zu machen. Jetzt starrte ich wie gebannt in die Finsternis.
Die monotone Wiederholung der Worte, die an einen Sprechgesang erinnerten, ließen mir eiskalte Schauer über den Rücken laufen. Zerrissen wurden sie nur von Howards wahnhaftem Kichern, das jedes zweite oder dritte Mal zwischen den Zeilen des Singsangs erklang. So stand ich gelähmt vor Angst und sah ihm zu, bis sein Körper völlig mit dem lichtlosen Gang zu verschwimmen begann und er sich darin auflöste; wie eingesaugt von einem gigantischen schwarzen Loch mitten in unserem Haus.
Irgendwann muss ich schließlich der Kälte oder der Müdigkeit in meinen Beinen Rechenschaft getragen haben und zurück unter die Daunendecken geschlüpft sein. Allerdings erinnerte ich mich nicht mehr genau daran, als ich am anderen Morgen erwachte.
Wie jeden Tag ging ich hinab zum Frühstück. Tante Susan und Großvater Phillips saßen auf ihren üblichen Plätzen und zu meiner Überraschung auch Howard. Er sah kein bisschen blass aus. Keine Ringe unter den Augen. Im Gegensatz zu mir. Er trug ein frisches Hemd und sein Haar war akkurat gekämmt, was auch nicht immer vorkam. Ich kommentierte es nicht. Setzte mich einfach und schenkte mir stillschweigend Tee ein. – Das Dienstmädchen kam nur noch unregelmäßig. Vor ein paar Tagen hatte ich sie über das Ausbleiben ihres Lohns schimpfen hören. Seit vorgestern war sie mir gar nicht mehr über den Weg gelaufen. – Die Ereignisse der vergangenen Nacht kamen nicht zur Sprache. Wie auch? Glaubte ich doch mittlerweile ganz fest, mir das alles nur eingebildet zu haben.
Nach dem Frühstück zog Großvater Phillips sich in sein Arbeitszimmer zurück, murmelte etwas von Korrespondenzen. Der sorgenvolle Blick meiner Tante streifte ihn dabei. Der alte Mann war in letzter Zeit nicht gerade bei bester Gesundheit. In Ermangelung des Personals fing sie dann allerdings an, das Geschirr abzuräumen und in die Küche zu tragen.
Ich hatte vor meiner Ankunft im vergangenen Herbst nicht gewusst, dass es mit den Finanzen der Lovecrafts so schlecht stand. Eigentlich hatte meine Familie immer voll Neid auf die Verbindung meiner Tante mit Howards Vater geblickt. Im Gegensatz zu meinen Eltern, die nur ein kleines Geschäft in eine unbedeutenden Provinzstadt führten, waren sie hier an der Küste zu Geld und Einfluss gelangt. Den Vorschlag, ich solle Howard in den Monaten seiner Genesung Gesellschaft leisten, bevor er ab Sommer auf die neue Schule ging, hatten meine Eltern darum gern angenommen. Meiner Lunge bekam die Seeluft hier sehr gut und meiner Bildung der Austausch mit meinem belesenen Cousin.
So glitt mein Blick auch wie immer zu ihm. Wobei die Frage, ob wir gemeinsam etwas machen sollten, fast schon obsolet war. Er schüttelte aber den Kopf. „Muss noch was nachlesen“, wimmelte er mich ab. Meinen Vorschlag, ihn in die Bibliothek zu begleiten, schlug er energisch aus. So blieb mir nichts anderes, als Tante Susan in der Küche zur Hand zu gehen, bis es Mittagessen gab.
Das Mahl fiel spärlich aus. Großvater nahm kaum drei Bissen und verschwand dann wieder. Howard kam gar nicht. Der trübe Januarhimmel zog sich mit Wolken zu und ohne Zweifel würde es bald Schnee oder Eisregen geben.
Ich verkroch mich also in mein Zimmer und las weiter in meinem Buch. Alice hinter den Spiegeln. Meine Familie hatte es mir zu Weihnachten geschenkt. Schon da hatte ich es nach wenigen Tagen verschlungen. Ich weiß nicht, zum wievielten Male ich es nun las, doch es faszinierte mich nach wie vor. Wege in andere Welten zu finden; – ob das tatsächlich möglich war? Ob es sie gab, die anderen Wirklichkeiten neben der unseren?
Zuhause tat man solche Gedankenspielereien meinerseits stets nur mit Kopfschütteln ab. In meinem Cousin Howard hingegen hatte ich vom ersten Tag meiner Ankunft an einen Verbündeten gefunden. Auch er fabulierte von Türen und Toren in andere Dimensionen. Doch unser reger Austausch über dieses Thema war in den letzten Wochen fast gänzlich eingeschlafen. Missmutig legte ich das Buch beiseite und ich dachte an seine Abfuhr beim Frühstück.
Ja, es störte mich wirklich, dass Howard so abweisend geworden war. Ich beschloss, ihn entgegen seinem Wunsch in der Bibliothek aufzusuchen.
Vor meinem Zimmer blickte ich einmal kurz über die Schulter zum Ende des Flures, wo das diesige Licht des Tages nur spärlich den Alkoven erhellte. Sofort kam mir mein Traum wieder in Erinnerung und ich fragte mich, was wirklich die Geräusche auf dem Gang verursachen mochte. Den ganzen kurzen Weg bis zur Bibliothek ließ mich die Frage nicht los und erst mit dem Öffnen der Tür konnte ich sie abschütteln.
Der Raum dahinter verdiente den Namen Bibliothek eigentlich gar nicht. Es war ein bescheidenes Zimmer mit einem Damensekretär neben dem Fenster und zwei Reihen von Regalen, in denen sich die Bücher stapelten. Natürlich waren es damit ungleich mehr, als man im Haus meiner Familie fand. Dennoch war es nicht zu vergleichen mit den hohen Hallen der Stadtbibliothek, in die mich Howard in meiner ersten Woche hier mitgenommen hatte.
Ich erwartete nun, meinen Cousin wie üblich mit dem Rücken gegen das Regal gelehnt vorzufinden. Meist war er dabei völlig in seine Lektüre vertieft und kritzelte Notizen auf einen Zettel, ohne dabei den Kopf zu heben. Doch Howard war nicht hier. Dafür aber Tante Susan, die erschrocken herumfuhr, als ich eintrat und fast das Glas in ihrer Hand hätte fallen lassen. Sie konnte es gerade noch festhalten und sich gleichzeitig am Sekretär.
„Helena! Du meine Güte! Kind!“, rief sie, und hielt sich die Hand an die Brust, als habe sie einen Geist gesehen. „Du kannst hier doch nicht einfach herumschleichen. Das gehört sich nicht.“
„Ich bin nicht geschlichen, Tante. Ich suche Howard.“
„Der ist in seinem Zimmer“, wimmelte sie mich kurz angebunden ab und bedeutete mir mit einer Handbewegung zu gehen. Im Umdrehen konnte ich aus den Augenwinkeln erkennen, wie sie den Inhalt des Glases in einem Zug lehrte, und hörte dann ein Kratzen, als würde eine geschliffene Karaffe entkorkt werden.
Ich wunderte mich darüber ein wenig und fragte mich, woher ich diesen würzi-herben Geruch kannte, den der Inhalt des Glases verströmte. War Tante Susan am Ende krank? Wollte sie es verbergen, damit wir uns nicht sorgten? Hatte sie mich darum gerade so angefahren?
Ich beschloss, Howard darüber auszufragen. Vorsichtig, verstand sich. Das war schließlich kein Thema, welches man einfach frei zur Sprache brachte. Die Schwindsucht grassierte auch in Providence, wie in allen größeren Städten Amerikas derzeit.
Vor seinem Zimmer angekommen klopfte ich und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Mir bot sich das übliche chaotische Bild seiner Zeichnungen und Notizen, die alle wild auf dem Boden verstreut lagen. Unzählige Augen blickten mich dabei von den losen Blättern an.
Die teils nur rasch skizzierten, teils säuberlich ausgearbeiteten Wesenheiten mit den langen Gliedmaßen schreckten mich aber schon lange nicht mehr. Ich kannte sie zur Genüge. Howard musste als sehr kleines Kind einmal eine schreckliche Begegnung mit einem Tintenfisch gehabt haben. Er liebte weder die Vielarmer, noch liebte er die See und das Wasser. Dennoch zeichnete er sie ständig. Außer seinen skurrilen Machwerken war sein Zimmer allerdings leer.
Ich stand inmitten der befüllten Seiten und zuckte ratlos mit den Schultern. Wenn er nicht hier und nicht in der Bibliothek war, wusste ich keinen Ort, an dem ich nach ihm hätte suchen sollen. Er mied die anderen Räume des Hauses, ging nur ungern in den dunklen Keller und auf den Speicher nur, wenn er mich mit Schauergeschichten erschrecken wollte. Kurz musste ich an die Treppe zum hinteren Dachboden denken. Doch alles in mir sträubte sich dagegen, diese Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. So blieb mir nichts, als mich wieder mit Alices Geschichte zu befassen und das Abendessen abzuwarten.
Zu diesem fanden nur Tante Susan und ich mich ein. Großvater Phillips ging in letzter Zeit oft schon früh schlafen. Meine Tante versuchte nicht einmal, den besorgten Tonfall deswegen zu verbergen. Ich kaute wortlos mehrere Minuten auf einem Bissen herum. Dann rang ich mich dazu durch, nach Howard zu fragen. Immerhin war es schon dunkel und ich hatte ihn den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen.
„Er war unten an der Küste. Hat sich vermutlich mit Freunden getroffen. Jetzt ist er oben. Er wollte noch etwas fertig schreiben“, überraschte mich meine Tante mit einer Antwort. Ich ließ sie jedoch unkommentiert.
Küste? Entweder wusste diese Frau gar nichts über ihren Sohn, oder die Tatsache, dass sie mir eine so offensichtliche Lüge auftischte, sollte deutlich machen, dass ich nicht weiter in dieser Sache vorzudringen hatte.
Bis ich schließlich vom Tisch entlassen wurde, wippte ich ungeduldig mit den Füßen. Dann gestattete Tante Susan mit einem kurzen Kopfnicken, dass ich gehen dürfe, und ich sprang auf. Im Hinaushasten vernahm ich hinter mir einmal mehr das Kratzen einer sich öffnenden Glaskaraffe und erneut stieg mir ein bitterer Duft in die Nase. Diesmal scherte ich mich aber nicht darum. Mit wenigen Schritten nahm ich die Treppe und war im oberen Stock. Ich ging zu Howards Tür, öffnete sie ohne zu klopfen und musste sofort angeekelt einen Schritt zurückweichen. Es roch im ganzen Zimmer so intensiv nach totem Fisch, dass ich mich fast übergeben hätte.
Als ich mit dem Ärmel vor der Nase einen erneuten Versuch wagte mich umzusehen, sah ich auch gleich, woher der penetrante Gestank kam. Inmitten der Bilder und Notizen auf dem Boden lag Howard. Seine rechte Hand mit der Zeichenfeder darin fuhr unentwegt in eine widerlich grüne Pampe, deren Aroma sich nun auch auf dem Flur ungehindert ausbreitete. Howards Blick löste sich von seinem Tun und streifte mich. Ich sah, dass mein Ekel sich darin widerspiegelte, aber gleichzeitig blinzelte mir auch eine Entschlossenheit entgegen, die fast schon dem wahnhaften Funkeln aus meinem Alptraum gleichkam.
„Dann warst du wirklich an der Küste“, brachte ich über die Lippen und sofort zuckte Howard unter den Worten zusammen, als habe ich ihn geschlagen.
„Ich brauchte die Algen“, beantwortete er meine nicht ausgesprochene Frage. „Ihre Haare sind grün, Helena. Grün! Verstehst du?“
Er erhob sich, kam auf mich zu. Sein Blick, mit dem er zunächst hinter sich schaute, als erwarte er dort jemanden stehen zu sehen, durchfuhr mich wie ein Blitz. Das Gefühl, das augenblicklich durch meinen ganzen Leib zog, war für mich nicht in Worte zu fassen. Ich wusste nur, ich wollte nicht, dass er nur einen Schritt näher kam.
Ich rannte hinaus schlug die Tür hinter mir zu und war mit wenigen Sätzen bei der meinen und hindurch, die ich von innen versperrte. Dann verkroch ich mich unverzüglich unter meiner Bettdecke, zog die Knie an und presste fest die Augen zusammen. Ich hegte die Hoffnung, dass sich die Erinnerung an Howards Gesicht damit verdrängen ließ. Aber im Gegenteil! Es brannte sich nur umso fester in meinem Gedächtnis ein und vermischte sich mit dem Singsang der vergangenen Nacht, während ich langsam wegdämmerte.
„Ich bin das Tor. Ich bin der Schlüssel. Lass mich dir folgen.“
Diese Worte, obwohl ich wusste, dass ich sie mir in Wahn und Angst und Halbschlaf nur eingebildet haben konnte, blieben vorerst das Letzte, was ich von Howard hörte. Am nächsten Tag sah ich ihn weder beim Frühstück, noch später irgendwann. Seine Zimmertür war stets verschlossen wenn ich klopfte und Tante Susan wimmelte meine besorgte Frage nach ihm nur ab. Sie schien abwesend. Wie benebelt.
Auch am folgenden Tag tauchte mein Cousin nicht auf und nicht am Tag danach. Mittlerweile schien das auch meine Tante bemerkt zu haben. Wobei ich es ihr kaum vorwerfen konnte. Am Tag musste sie den Haushalt nun ganz allein machen und in der Nacht hielt sie die offensichtlich schlechter werdende Verfassung ihres Vaters an seiner Seite und auf den Beinen.
„Wo steckt der Junge nur? Er ist doch nicht etwa auch krank?“, gab sie mit schleppender Stimme von sich.
Ohne dass ich es wollte, fielen mir sofort die Worte aus meinem Alptraum ein: ‚Ich bin das Tor. Ich bin der Schlüssel. Lass mich dir folgen.‘ Daraufhin verschluckte ich mich an meinem Tee und musste so heftig husten, dass ich kleine Tröpfchen überall auf dem Frühstückstisch verteilte.
Tante Susan wischte den mit Spucke vermengten Tee angewidert von ihrem Teller, sah mich missbilligend durch ihre tiefen Augenringe an. „Du wirst doch nicht etwa auch krank?“, fragte sie. Den Blick, den sie mir dabei zuwarf, kannte ich. So sah man all jene an, die erste Anzeichen der Schwindsucht zeigten. Es war jene Mischung aus Mitleid, Panik, Ekel und Selbsterhaltungstrieb, die dem Gegenüber genau zu verstehen gab, dass man sich nicht länger in seiner Gegenwart wünschte.
Ich wollte mich erklären, keuchte aber immer noch und letztlich hielt ich es nicht mehr aus. Weiter aus vollem Halse hustend sprang ich vom Tisch auf und lief ins Obergeschoss. Erst auf dem letzten Treppenabsatz fühlte sich meine Kehle wieder einigermaßen frei an und ich kam mir nur noch dumm und unhöflich vor. Noch einmal hinabzugehen und mein Frühstück zu beenden, traute ich mich allerdings nicht, und so ging ich schnurstracks zu Howards Zimmer. All die finsteren Gedanken an die Alpträume und die Stimme beiseite schiebend, klopfte ich. Unter meiner Berührung schwang die Tür diesmal gleich nach innen auf.
Das Zimmer war leer. Meine Augen tasteten das übliche Chaos ab, fingen sich dann aber in Zeichnungen, die ich zuvor nie gesehen hatte. Das Wesen, welches der wirren Phantasie meines Cousin zuletzt entsprungen war, starrte mich von unzähligen losen Blättern an.
Am auffälligsten war dabei, dass die Kreatur für HowardssonstigeKreationen viel zu wenig Tentakeln hatte. Wohlproportioniert und weiblich, warsie auch fast zu hübsch, um ein Teil von seiner bizarren Gedankenwelt zu sein. Nur ihr giftgrünes Haar sonderte noch immer diesen fischigen Geruch ab, dass mir das Frühstück wieder hochkam.
Meine Hände wühlten sich durch den Berg an Papier und ich stellte fest, dass Howard in den letzten Tagen und Nächten nichts anderes gezeichnet hatte als diese Frau. Manchmal war dazu ein Schlüssel in eine Ecke des Bildes gekritzelt, manchmal hielt sie ihn in der Hand und manchmal stand sie damit vor einer Tür. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen und fand auch keinen Hinweis, wo Howard sein könnte. Ich beschloss daher, das Haus einmal vom Keller bis zum Giebel auf den Kopf zu stellen. Irgendwo musste mein Cousin schließlich sein. Das von der Küste her aufziehende Unwetter verbot immerhin jeden Gedanken daran, er könne sich draußen aufhalten.
Drei Stunden später gab ich dieses Unterfangen jedoch auf. Auch wenn das Haus groß war, hatte ich nun jeden Raum schon zweimal durchsucht. Tante Susan hatte sich derweil in ihrer verzweifelten Apathie in die Bibliothek zurückgezogen und kam nicht mehr daraus hervor. Das Mittagessen fiel somit aus. Die Köchin war ohnehin nicht gekommen. Ich durchstöberte noch einmal den vorderen Dachboden. Als ich voll Staub und mit Spinnweben in den Haaren zum dritten mal für heute herunterkam und nach meiner Tante sah, war es bereits vier Uhr.
Howards Mutter saß mit in die Hände gestütztem Kopf an ihrem Sekretär.Eine Flasche mit bloß nocheinem Bodensatz grünlichen Inhaltesstand geöffnet neben ihr. Der schwere, bittere Geruch breitete sich auch jetzt wieder im ganzen Raum aus und ich erkannte ihn diesmal: Wermut.
Ich begriff, dass dies nicht der erste Nachmittag in ihrem Leben war, an dem sie ihren Kummer in Alkohol ertränkte.
Ich ging auf sie zu. Wollte wissen, ob Tante Susan eingedöst war, doch hob sie augenblicklich den Kopf, als ich mich näherte. Sogleich fiel mir eine Kette mit einem Siegel um ihren Hals auf, wie ich sie von meiner Mutter kannte. Außerdem bemerkte ich, dass sich das gleiche Symbol auch auf dem Sekretär und der Flasche mit dem Absinth befand.
Meine Frage lag mir noch auf der Zunge. Ich fand aber keine Worte. TanteSusan winkte mich zu sich. Sie nahm meine Hand. Ihr glasiger Blick ging dabeian mir vorbei über meine Schulter. Es erinnerte mich an Howards wahnhaftes Vor-Sich-Hin-Stieren. Das Schaudern durchzuckte mich wieder. Ich wollte zurückweichen, aber sie ließ nicht los. Mit einer Kraft, die ich ihr nicht zugetraut hatte, zog sie mich zu sich hinab und flüsterte mir ins Ohr: „Ich wusste, dass sie ihn irgendwann holen würde. Das hat sie schon immer mit den Kindern dieser Familie getan.“
Dann schenkte sie sich nach und trank direkt in einem Zug aus. Ich war gelähmt vor Entsetzen.Wollte fort von ihr. Erst Howard und jetzt ihr seltsames Verhalten. Kein Wunder, dass die Bediensteten fort blieben!
Dann aber atmete ich tief durch. So wie man es mir beigebracht hatte, wenn mich die Atemnot überkam. Es half mir. Ich konnte mich zusammenreißen. „Hier ist außer uns keiner, Tante Susan“, erklärte ich ihr mit so ruhiger und fester Stimme, wie ich konnte.
Sie lachte nur. Starrte an mir vorbei. Setzte das Glas wieder an die Lippen. Einen winzigen Schluck ließ sie diesmal am Boden des bauchigen Gefäßes zurück. Sie hielt es auffordernd in meine Richtung.
„Trink, wenn du sehen willst, Helena.“
Ich hob abwehrend die Hände.
„Kluges Mädchen. Aber du kannst nicht entkommen. Es ist unser Blut. Wir kamen aus der alten Welt. Und sie mit uns.“
Sie deutete neben mich, wo noch immer nichts war als die Wand und das Bücherregal. Ich wusste nicht, was sie meinte. Sicher, unsere Familie ließ sich bis zu den ersten Siedlern in der Massachusetts Bay zurückverfolgen. Aber von welcher ‚sie‘ redete meine Tante?
Zögernd stand ich vor ihr. Angstvoll. Doch konnte ich die Neugier nicht bezwingen und ergriff schließlich das Glas. Ich nahmden letzten Schluck daraus, spürte, wie der bittersüße Tropfen mir brennend die Kehle hinablief. Ich drehte mich um, ein mitleidiges Lächeln schon auf den Lippen. Ich wollt ihr sagen, dass hier niemand war, dass wohl der Alkohol sie dem Wahnsinn immer näher brachte. In dem Moment aberfiel mein Blick auf die Stelle, die Tante Susan nicht aus den Augen ließ.
Ich prustete. Keuchte. Bekam den Absinth in die Nase und spürte, wie er sofort in meinen Kopf drang. Mir wurde schwummerig, denn mein Körper war den Alkohol nicht gewohnt. Dennoch war mir klar, dass ich bei Weitem nicht betrunken genug war, um zu halluzinieren. Mit jeder Sekunde, die ich sie anstarrte, wurde sie wirklicher.
Die fahle, hellgrüne Haut spannte sich über die hohen Wangenknochen. Das wallende, moosfarbene Haar umgab ein Gesicht so unwirklich schön und gleichzeitig bizarr, dass mein Verstand es weder fassen konnte, noch Worte dafür fand. Mein Gehirn rief sich sofort jenen fischigen Geruch in Erinnerung zurück, der ihren Anblickin Howards Zimmer begleitet hatte. Dabei wusste ich, dass er nicht real war. Nur eine Einbildung. Denn sie war diesmal nicht nur eine Zeichnung aus Tusche und Algenschlamm. Sie war echt!
Ein Grinsen legte sich über ihre Züge, als unsere Blicke sich trafen. Ich wollte das Glas aus meiner Hand fallen lassen und davonlaufen, aber ich konnte nicht. Und sie spürte das. Sie löste sich von ihrem Platz, ging auf Tante Susan zu, der sie sanft mit der Hand über die Augen fuhr. Der Kopf meiner Tante sank augenblicklich auf ihre Brust. Dann wandte das Wesen sich wieder mir zu, kam auf mich zu, dass die aufwallende Panik mir die Brust zuschnürte und ich Angst haben musste, einen Erstickungsanfall zu erleiden.
Sie ging aber einfach an mir vorbei. Ihre Äthergestalt streifte mich bloß, was mich frösteln ließ. „Du bist das Tor. Du bist der Schlüssel“, hörte ich sie flüstern.
Bei der Tür drehte sie sich um und gab mir einen Wink ihr zu folgen. Ich wollte nicht. Ich wollte hierbleiben, sehen, ob meine Tante nur eingeschlafen oder tot war. Ich wollte nicht mit diesem atemberaubend furchtbaren Wesen gehen. Aber meine Füße taten nicht, was ich ihnen befahl. Sie setzten sich von ganz allein in Gang, folgten dem Flüstern der grünen Fee vor mir. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass ihr fahles, grünes Licht verblasste und sie für einen Moment pechschwarz aufflackerte. Vielleicht war das aber auch nur mein umnachteter Verstand.
Ich ging ihr nach aus dem Raum den Treppenabsatz in den Flur hinabund sah sie schon auf halber Höhe zum Aufgang in den hinteren Dachboden stehen. Sie winkte und ich musste folgen. ‚Ob Howard sich auch nicht dagegen hatte wehren können?‘, dachte der letzte noch vernünftige Teil in mir. Schon Augenblicke später war die Frage allerdings unerheblich. Ich stand vor der schäbigen alten Tür. Spinnweben hingen in ihrem Rahmen, als wäre sie seit Jahren nicht mehr geöffnet oder auch nur beachtet worden. Ich erwartete, dass die grüne Gestalt einen Schlüssel ziehenwürde, um mir zu öffnen. Stattdessen aber ging sie einfach durch die geschlossene Tür hindurch.
Ich stand da und wartete. Einen Lidschlag später kam sie zurück. „Komm, Helena. Folge mir. Howard ist schon hier. Es ist für euresgleichen gemacht.“
Mein Herz begann zu rasen. Mein Puls sprengte jede Grenze und Blut rauschte wie ein tosender Gebirgsbach durch meinen Schädel, dass ich glaubte, gleich ohnmächtig zu werden. Ich wurde es aber nicht.
Erneut wartete ich darauf, dass sie einen Schlüssel zückte. Stattdessen ergriff sie meine Hand, führte sie näher an das alte Holz heran. Ich wollte es nicht und doch wollte ich nichts anderes mehr. „Du bist das Tor. Du bist der Schlüssel“, hauchte sie einmal mehr geheimnisvoll in mein Ohr und tauchte dann wieder durch das massive Holz, kaum dass meine Finger Millimeter davor verharrten.
Ich schloss die Augen. Zuckte innerlich zurück. Dort auf den alten Brettern erschien jenes Zeichen, das Mutter und Tante Susan trugen. Das Zeichen, das auch in den Sekretär geschnitzt war. Es loderte vor meinen Augen. Ich glaubte zu wanken. Lehnte mich von den Brettern fort, während meine Hände nicht mehr zu mir gehörten und etwas in die Luft malten. MeineFüße gingen die letzten My auf die Tür zu. Gleich würden meine Finger das Holz berühren. Ich würde aufwachen aus diesem schaurigen Traum und … Dann fiel ich einfach hindurch.
Ich spürte, wie mich die Substanz der Tür streifte, also etwas in mir streifte. Ich begriff nicht ganz, wollte mich fragen, ob nur mein Geist hindurch getreten war, und mein Körper am Ende noch im Gang vor der Tür verharrte. Aber das war alles belanglos, kaum dass meine Augen in die alptraumhafte Surrealität um mich blickten.
Ich stand in einer Stadt, die schon lange nicht mehr bewohnt sein konnte. Alles an diesem Ort war grün und es roch … wieder fiel es mir nicht ein. Mein Verstand verdrängte es einfach. Über mir an einem fahlgrünen Himmel zogen gigantische Monstrositäten ihre Runden, die Fangzähne, Klauen, Schuppen und Tentakel hatten. Alles gleichzeitig und in beliebiger Zusammensetzung. Ich tat einen Schritt, denn mir wurde plötzlich klar, dass ich für sie offen sichtbar in dieser breiten Straße mit den zerfallenen Prachtbauten stand. Von der grünen Fee mit dem zauberhaft scheußlichen Gesicht fand ich keine Spur mehr. Als ich mich bewegte, schmatzte es allerdings zäh und klebrig unter meinen Füßen.
Ich wollte nicht hinabblicken. Ich konnte es aber auch nicht verhindern. Entsetzen überkam mich, formte sich zu einem Schrei ganz tief in mir und drang nach oben. Ich verkniff es mir im letzten Moment und stieß mit dem Fuß die Überreste einer Kreatur zur Seite, aus deren offener Brusthöhle ein zäher Teer gelaufen kam. Wie alles an diesem Ort war auch der Teer grün.
Meine Augen wandten sich ab, doch wo sie hinsahen, lagen weitere zerfledderte Körper. Mal waren ihr Bauch oder ihre Brust geöffnet. Mal konnte ich ihre Körperteile gar nicht richtig zuordnen, denn sie hatte einfach nichts an sich, was in irgendeiner Weise an die Anatomie der Welt erinnerte, die ich hinter mir gelassen hatte. ‚Vielleicht für immer?‘, stieg ein schauriger Gedanke in mir hoch. Die Tür war nicht mehr da, und so blieb mir nichts, als der Spur aus Leichen zu folgen, in der Hoffnung, Howard zu finden, bevor der Wahnsinn, der an diesem Ort verborgen lag, mich fand.
Manchmal auf meinem Weg über ausgestorbene Plätze und durch verwaiste Straßenzüge glaubte ich, von jemandem beobachtet zu werden. Drehte ich mich dann aber in die Richtung um, sah ich nichts weiter, als den grünen Schimmer, der alles umgab. Ein paar Mal war ich kurz davor nach Howard zu rufen. Doch die Dinger am Himmel drehten weiter unablässig ihre Schleifen. Wie Maschinen. Nur dass Maschinen sich nicht gegenseitig zerfleischten, sobald ihre Wege einander kreuzten. Grünes Blut regnete nach einer solchen Begegnung vom Himmel, und meine Haare, meine Kleider, jeder Zentimeter an mir war bald damit bedeckt. Ich glaube, ich weinte sogar. Aber sicher bin ich mir nicht. Ich weiß nur, dass da der Gedanke war: Wenn ich Howard finde, dann wird alles gut.
Der Himmel über mir zog sich dreimal zu und dreimal wurde das Grün um mich heller. Meine Beine waren bald taub, meine Gedanken ebenfalls, denn anders konnte ich diesen Ort nicht ertragen. Mein Weg führte mich weiter und weiter undzweimal glaubte ich sogar, zwischen den Toten so etwas wie menschliche Gestalten zu erblicken. Sie kamen mir vage bekannt vor. Eine trug ein weißes Häubchen, die andere eine blutbefleckte Schürze.
Baldstolperte ich apathisch über die Trümmer einer zerbrochenen Statue, bahnte mir den Weg um sie herum. Ich glaubte schon nicht mehr daran, je wieder etwas anderes als grünes Grauen zu Gesicht zu bekommen, vermischt mit diesem bitter-würzigen Geruch, als ich in der fahlen Dämmerung plötzlich die Umrisse einer vertrauten Gestalt erblickte. Das dunkle Haar, die schmalen Schultern, die energische Haltung. Wie immer, wenn er ganz in etwas vertieft war.
„Oh, Gott sei Dank, Howard!“, entfuhr es mir.
Ich stürmte auf ihn zu, wollte ihm um den Hals fallen. Doch schrak ich in letzter Sekunde zurück. Eine Kreatur aus Stacheln und langen Fortsätzen lag mit aufgerissenen Eingeweiden vor ihm. Am Zucken der Tentakel erkannte ich zu meinem Entsetzen, dass sie noch lebte.
„Howard! Komm weg da! Es lebt!“
Mein Cousin drehte sich zu mir um. Ganz langsam. Jener Ausdruck von Wahn, den ich schon zuhause bei ihm bemerkt hatte, hatte sich tief in seine Züge eingegraben und war mit dem Gesicht, das ich wie das eines Bruder liebte, zu etwas Neuem, Unaussprechlichen, verschmolzen.
„Ich weiß, Helena“, entgegnete er. „Ich weiß, aber keine Sorge. Es lebt nicht mehr lange.“
Mit der bloßen Hand griff er in das schleimige Gewirr aus Gedärmen und was sich sonst im Innern dieses Unwesens befand. Das brachte alles in mir zum Einsturz und ich schrie. Lang und laut und es war mir egal, welche Wesen nun alle auf uns aufmerksam wurden.
Mit blutbeschmierten Händen kam Howard auf mich zu. „Psst, Helena. Psst. So nah wie heute war ich ihr noch nie. Ich muss hinter das Geheimnis kommen. Die letzte Flasche ist leer.“
„Was redest du da? Wessen Geheimnis? Howard, wir müssen hier weg!“
„Nein, Helena. Wir gehören hierhin. So, wie die grüne Fee gesagt hat. Nur wir können die Geheimnisse dieses Ortes entwirren. Doch um hierher zu kommen, müssen wir den Absinth trinken. Ich kenne die letzte Zutat nicht, die sie nutzt, damit sich das Tor für uns öffnet. Es ist nicht ihre Haut. Es ist nicht ihr Blut. Wenn es nicht ihre Herzen sind, weiß ich es auch nicht. Aber vielleicht …“
Ich starrte ihn fassungslos an. In seiner linken Hand hielt er ein schrumpeliges Ding, das hin und wieder noch zuckte. Ich dachte an die Leichen, die ich auf meinem Pfad hierher gesehen hatte. Mein Verstand wollte die Konsequenz nicht ziehen. „Ichbin das Tor. Ich bin der Schlüssel“, murmelte ich halb im Wahn die Worte, die mir als erstes in den Sinn kamen. Der herbe Geruch durchdrang jetzt ganz meinen Verstand. Ich blickte mich um und sah nun auch, woher er kam. Wermut. Überall an den alten Mauern und zerbrochenen Steinen wuchs Wermut. Und dort hinten an der Wand lehnte die Fee und nickte mir lächelnd zu.
Damit hatte ich genug gesehen und genug begriffen. Noch schmeckte ich ihn auf der Zunge, im Gaumen, und die Worte dieses grünen Scheusals, das mich – das uns – hergelockt hatte, gaben mir die Gewissheit, was ich tun musste.
Ich streckte die Hand aus und meine Finger malten das Siegel in die Luft. Ich stürzte ein weiteres Mal durch eine Tür und bevor die Himmelsbestien uns erreichten, oder Howard es schaffte, den grünen Inhalt des Herzens in seine mitgebrachte Flasche auszupressen, kamen wir polternd mit aufgeschlagenen Knien am Fuß der Treppe zum hinteren Dachboden zu liegen.
„Wir sind das Tor. Wir sind der Schlüssel“, presste er hervor,und nichts als tiefes Bedauern und manische Entschlossenheit lagen in dem Blick, mit dem er die alte Holztür anstarrte.
Nach diesem Erlebnis wollte ich nichts mehr, als meinen Aufenthalt in Providence so schnell als irgend möglich zu beenden. Ich schrieb einen eiligen Brief an meine Mutter, der nichts erklärte, außer, dass ich dringend nachhause zu kommen wünschte.
Bis zum Tag meiner Abreise zwei Wochen danach verließ ich mein Zimmer nur, wenn ich musste. Ich aß so selten es ging, um der Gesellschaft meiner Verwandten zu entgehen. Und doch sah ich sie – vor allem Howard – für meinen Geschmack noch zu oft.
Ich wollte vergessen, doch gelang es mir in Monaten und Jahren danach nicht annähernd, die schrecklichen Bilder aus meinem Kopf zu bekommen. Sobald es vom Gesetz her für mich erlaubt war, suchte ich mir einen geeigneten Mann unter den Fremden, die alljährlich in unsereStadt kamen.
Mit dem Namen hoffte ich, die letzte Erinnerung an dieses furchtbare Erlebnis abzulegen, und zeichnete fortan alle Briefe nur noch mit den Initialen H. S., Henriette Smith. Niemand sollte auf die Idee kommen, der wirre Geist, der in der New Yorker Schreiberszene derweil zu fragwürdigem Ruhm gelangte, könne auch nur das Geringste mit mir zu tun haben.
Meine Neugier konnte ich allerdings nicht bezwingen, und so las ich jedes neue Schriftstück, das mein Cousin in den folgenden Jahren verfasste. Die Welt verharrte in ehrfürchtigem Staunen, was sein Geist hervorzubringen vermochte. Ich allerdings betete jedesmal inständig, dass seine nächste Geschichte endlich Zeuge davon sein möge, dass er sich dem unheilvollen Einfluss seiner grünen Führerin hatte entziehen können.