Leseprobe Band III

1.

Gib mir deine Hand!“, rief eine Stimme und ein Arm streckte sich ihr entgegen. Der lose Schiefer bröselte unter ihren Fingerspitzen weg. Bevor sie jedoch den Halt an der Felswand verlieren konnte und abrutschte, schloss sich eine Faust um ihr Handgelenk und zog sie hinauf. Keuchend fiel sie vornüber auf die Knie.

Wahnsinnig! Du bist völlig wahnsinnig!“, brachte sie hervor, als sie wieder etwas zu Atem gekommen war.

Ein Lachen antwortete. Es blitzte in den blauen Augen; – halb schelmisch, halb nervös.

Hab ich schon öfter gehört“, überspielte er seine Unsicherheit mit einem verschämten Lachen.

Und was hättest du gemacht, wenn ich abgestürzt wäre?“

Du wärst nicht abgestürzt.“

Und da bist du dir ganz sicher?“

Absolut. Vertrau mir! Und jetzt komm. Ich muss es dir zeigen.“

Mit einem kurzen Zögern nahm er erneut ihre Hand und zog sie mit sich. Die Felsen hier oben waren von dicken Moospolstern bedeckt. Sonnenstrahlen tanzten darauf wie auf weichen Kissen. Knorrige Eichen und vereinzelte Kiefern bogen sich in einem leichten Wind. Die Luft roch nach spätem Frühling. Waldmeister, Buschwindröschen, feuchte Erde. Fenia sog die Gerüche ein, ließ sich im Moment treiben und folgte ihm.

Die blonden Haare in seinem Nacken, die knapp über die Schultern fielen und vom Wind gezaust wurden, sie hatten etwas Vertrautes bekommen in den letzten Wochen. Für einen Augenblick dachte sie daran, dass noch vor drei Monaten alles anders gewesen war. Einfach alles. Doch was zählte das schon?

Als wäre dieser Gedanke ein Signal, hielt Martin plötzlich inne. Sie konnte eine Felskante vor ihnen sehen.

Augen zu!“, forderte er.

Unsicher lächelnd kam sie dem nach. Vorsichtig führte er sie weiter. Der Untergrund war uneben. Obwohl Martin langsam ging, konnte sie den Drang nicht unterdrücken und musste kurz blinzeln.

Nicht kucken“, kam es von ihm. „Du kannst mir wirklich vertrauen. Ich pass auf. Aber sonst ist es nur halb so gut.“

Fenia schluckte. Vertrauen. Welchem Menschen auf dieser Welt konnte man schon völlig vertrauen? Von wem würde man sich blind auf einen dreißig Meter tiefen Abgrund zuführen lassen?

Bevor sie sich selbst eine Antwort darauf geben konnte, schob Martin sie allerdings vor sich, hielt sie an den Schultern fest und flüsterte: Und jetzt auf.“

Sie blinzelte zunächst, denn der Wind war stärker geworden. Dann aber sog sie vor Schreck hastig die Luft ein. Sie stand nur einen halben Meter von der Felskante entfernt, die über das Flusstal ragte. In weichen Kurven wand sich das Gewässer unter ihnen dahin. An seinen Hängen rechts und links breitete sich ein dichter Mantel in allen nur denkbaren Grüntönen aus. Es war atemberaubend.

Und? Hat es sich gelohnt mir zu vertrauen?“, fragte er, und immer noch schwang ein Hauch von Zweifel in seiner Stimme mit.

Fenia drehte sich um und lächelte ihn schief an.

Das ist gar nicht so einfach mit dem Vertrauen. Ich meine, der Weg hier rauf war wirklich gefährlich.“

Aber dafür ist man dem Himmel gleich ein ganzes Stück näher“, flüsterte er.

Fenia nickte stumm. Martins Gesicht hingegen strahlte sie an. Sie spürte seine Begeisterung und ließ sich davon anstecken. Er deutete auf den Stamm einer krummen Eiche. Zwischen ihren starken Wurzeln konnte man ganz dicht an den Felsvorsprung heranrücken, ohne Angst haben zu müssen hinunterzufallen. Sie setzte sich neben ihn, lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Die Zeit hätte in diesem Augenblick stehen bleiben dürfen.

Für eine Weile taten sie nichts weiter, als in das wogende grüne Meer um sich und auf die hellen Flussauen zu schauen. Sie spürte dabei ihren flatternden Herzschlag bis zum Hals und seinen, der ein Vielfaches ruhiger und kräftiger schien. Ihre Augen fielen wie von selbst halb zu. Sie lauschte auf den Wind in den Blättern über ihnen. Auf das Rascheln um sie im Laub des vergangenen Jahres. Martin strich ihr durchs Haar und lange sagte keiner von ihnen ein Wort. Bis er wieder zu ihrer Aussage von vorhin zurückkam.

Wenn du tatsächlich mal jemandem dein Leben anvertrauen müsstest, wer wäre das?“

Warum willst du das wissen?“, fragte sie zurück. Dabei blieb sie reglos neben ihm sitzen.

Nur so. Ich will alles über dich wissen.“

Fenia musste lächeln. Ihr ging es genauso. Sie öffnete die Augen, sah ihn an und schien eine Weile in sich zu gehen.

Meinen Eltern vermutlich“, sagte sie schließlich. „Und du?“

Joe“, kam Martins Antwort prompt. Er schien nicht einmal darüber nachdenken zu müssen. Er kennt mich besser, als jeder andere Mensch auf dieser Welt. Ich glaube, er kennt mich sogar manchmal besser, als ich mich selbst. Wenn es für mich jemanden gibt, der so etwas wie einer Familie nahe kommt, dann ist er es.“

Er grinste. Fenia erwiderte es. Ein keckes Blitzen trat dabei in ihren Blick. Ohja“, bestätigte sie seine Worte, „Joe kennt dich wirklich gut. Ohne ihn wüsste ich schließlich gar nicht, dass du sogar manchmal ein bisschen nett sein kannst?“

Soso, manchmal? Ein bisschen? Dann muss ich mich bei Joe ja glatt noch bedanken.“ Er versuchte sie zu sich zu ziehen und zu kitzeln, doch Fenia war schneller und sprang auf die Füße.

Ja, solltest du. Ich hätte es ihm trotzdem fast nicht geglaubt.“

Sie lief ein Stück von der Klippe weg in den Hangwald. Martin hatte sie allerdings mit wenigen Schritten eingeholt. Halbherzig versuchte sie von ihm loszukommen, gab dann aber nach und ließ sich küssen. Seine Lippen auf ihren, – das war immer noch viel zu schön um wirklich zu sein.

Warum nur bist du so ein Idiot gewesen?“, neckte sie ihn weiter, als sie sich voneinander trennten.

Warum du so ein stilles Mäuschen?“, konterte er.

Wieder Schweigen.

Er nahm sie in den Arm und durchbrach als erster die Stille. Seine Stimme klang dabei plötzlich sehr ernst. Ich weiß, dass ich Fehler habe, und auch, dass ich weder zu dir noch zu Joe fair gewesen bin. Ich habe eigentlich immer nur nach etwas gesucht, von dem ich selbst nicht wusste, was genau es war. Ich weiß, dass ich manchmal über die Stränge schlage, und ich kann vermutlich froh sein, dass bisher immer Joe da war, um mich einzubremsen.

Ohne ihn wäre ich noch viel öfter irgendwo angeeckt als ohnehin schon. Aber dafür kann Joe auch immer darauf vertrauen, dass ich ihm helfe. Seine stille Art und seine Vorliebe dafür, jedem die blanke Wahrheit ins Gesicht knallen zu müssen, die haben ihn manchmal ganz schön in Schwierigkeiten gebracht. Ich habe einfach gelernt, dass es wichtig sein kann, dass andere mich respektieren und im Zweifelsfall wissen, dass mit mir nicht gut Kirschenessen ist, wenn sie meine Freunde drangsalieren.“

Fenia verstand, was er ihr sagen wollte. Dennoch befand sie es nicht für richtig, dass er immer wieder so schrecklich aufbrausend wurde, wenn im etwas nicht passte. Sie sah zu ihm auf und musste es gar nichts mehr sagen. Martin kannte diesen Blick von ihr schon viel zu gut.

Du hast recht. Mit allem, was du sagen willst. Aber ich kann nicht aus meiner Haut. Ich weiß mittlerweile, dass es genau das hier war, wonach ich mich immer gesehnt habe. Ein Mensch, der mich einfach so nimmt wie ich bin, ohne dass ich ihm was vormachen muss. Bisher habe immer gedacht, Joe wäre der Einzige, der wirklich versteht, wer ich eigentlich bin. Diesen Ort hier kennt außer mir auch nur er. Und jetzt, jetzt kennst du ihn auch.“

Die Nacht ging in den Morgen über. Die friedlichen Träume aus weit entfernten Tagen verblassten wie das Mondlicht vor dem Fenster. Fenia wälzte sich unruhig in den Laken hin und her. Dabei schlug sie immer wieder wild um sich. Erstickte Laute drangen aus ihrer Kehle, die irgendwo zwischen angsterfülltem Schreien und gepeinigtem Schluchzen lagen. Neue Bilder zogen in ihrem traumschweren Geist auf. So viele Sommer, so viele Erinnerungen, so viel Schmerz und das alles vermischt mit so viel Nebel.

Er stieg auf aus den Tiefen ihres Bewusstseins, füllte erst die Klippe oben am Fluss und dann die Lichtung um den kleinen See und gleichzeitig ihr Herz. Das Gesicht mit den blauen Augen tauchte erneut aus den fahlen Schleiern, diesmal von Fieber und Wahnsinn durchdrungen. Der Blick darin abweisend, zänkisch, verachtend.

Es verharrte nur einen Moment, dann versank es wieder in dem Grau, aus dem es gestiegen war. Andere Gesichter erschienen, nahmen seinen Platz ein. Ein tiefes Grün leuchtete von fern. Sie erkannte Joes dunkelblonden Schopf, sah ihn lächeln, dann mit einem Mal vor Entsetzen die Lippen zu einem Schrei verzerren.

Mehr Augen, mehr Gesichter, mehr Erinnerungen. Alle nur flüchtig und kaum da, als weigere ihr Kopf sich, sie alle zu erkennen, den Schmerz, der mit ihnen verbunden war, – und die Trauer.

‚Vertraute Gesichter erhalten neue Namen, wenn der Schleier sich auf sie legt. Er nimmt den Blick, doch gleichzeitig lässt nur er uns wirklich sehen‘, hörte sie Worte durch ihr Bewusstsein ziehen.

Als nächstes fand sie auf dem Dach Caer’Arions wieder. Um sie lauter Bäume, wie im Wald am See. Sie spürte Wind in ihren Haaren, wild und unbändig. Er trug eine Ahnung in sich.

‚Ich will den Tag erleben, wenn dank dir der Wind der Freiheit durch diese Welt weht‘, strich eine vertraute Stimme um sie herum. Ein Lachen, tief und beruhigend, gesellte sich zu ihr. Kurz blitzte es dunkel auf, wie ein Blick aus zwei tiefbraunen Augen. Es gab ihr für einen Moment das Gefühl zu Hause zu sein. Aber schon in der nächsten Sekunde verging das Blitzen. Nur ein düsterer Fleck blieb zurück, wo die Stimme gewesen war. Der Wind ebbte ab. Der Fleck wurde größer, tiefer, dunkler. Schwärze zog sie in sich hinein, gerann zu Wänden, die sie umschlossen; – Wände, glatt und geschliffen wie düsteres Glas. Die Luft wurde dünner. Ein gelbes Glühen. Wieder Augen. Ein schmutziges Grinsen. Hände auf ihrer Haut.

‚Nein! Nicht!“, flehte sie. Sie wollte nicht. Nicht diese Erinnerung. ‚Bitte!‘

Die Bilder waren gnädig, versanken wie alles andere im Nebel, der sich mit jeder Traumsequenz dunkler färbte. Kälte und Schatten flossen über sie hinweg, ließen ihren Körper brennen und machten ihn gleichzeitig taub.

Erneut tauchten die blauen Augen auf, diesmal lachend, fürsorglich, ängstlich, ernst; alles nacheinander und doch alles zugleich. Blut begann zu fließen. Blut an ihren Händen und Füßen, an ihrem ganzen Körper, der mit einem Mal unbekleidet in dem schwarzen Nebel schwebte. Sie blickte an ihren Armen entlang, stellte fest, es war ihr eigenes Blut, denn Wunden zogen sich von den Handgelenken bis zu den Schultern, und auch auf ihrem Rücken brannten tiefe Striemen.

Dann wurde das Blut mehr. Die Striemen und Schnitte verblassten aber. Es war nicht mehr ihr eigenes Blut. Es sammelte sich um sie, stand bald bis zu ihren Knöcheln. Schwarzer Nebel füllte den Boden, kroch ihre Füße empor. Schatten und Blut und Blut und Schatten.

Eine winzige Stimme in ihr flüsterte, dass dies alles nicht echt war, nicht echt sein konnte. Ein Teil ihres Gedächtnisses wollte ihr weißmachen, dass sie noch immer im Krankenhaus lag nach ihrem Sturz am Waldsee. – Platzwunde. Schädelhirntrauma. Koma. Wenn sie die Augen aufmachte, dann würde alles weiß sein. Wände, Decke, Bettzeug, alles weiß! Ihre Mutter würde bei ihr sitzen, ihre Hand halten und ihr sagen, dass alles bloß ein langer, böser Traum gewesen war. Nichts davon wirklich jemals geschehen.

Nicht die Bilder in ihrem Kopf, nicht die Reise in jene fremde Welt, nicht die Schmerzen und die Folter und all die Grausamkeiten, die sie ertragen hatte. Und auch nicht sein Tod.

Ihr Herz setzte bei dieser Erkenntnis für einen Schlag aus. Ein Gefühl, als falle sie in eine endlose, samtige Nacht, machte sich in ihr breit. Etwas in ihr schwoll an wie eine Flut, die zulange zurückgehalten worden war. Dämme standen kurz vor dem Bersten. Erleichterung wollte sich in Tränen ihren Weg brechen. Da wachte sie unvermittelt auf.

Ihre Hände fuhren in weiche Kissen, ein Hauch von Seide umgab ihre Gestalt. Weiß und grün und golden die Vorhänge ihres Himmelbettes. Und dort, ihr gegenüber, jener blasse Schemen, der ihr bereits so vertraut war. Im leblos trüben Blick seiner Augen fiel ihr alles wieder ein. Sie war hier, zurück in Talveymar, und alles davor war wirklich gewesen. Die gierigen Finger des Piratenkönigs, die sengende Glut der schwarzen Flamme und genauso Llewellyns letzter Kuss und sein letztes Versprechen an den eisigen Hängen der Schattengletscher. Kein Traum, aus dem man einfach aufwachen konnte, obwohl sie sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher wünschte.