Eine Erui Kurzgeschichte
Ich habe eine neue Erui-Kurzgeschichte fertig. Den Lesern des Sterns wird sie stellenweise bekannt vorkommen. Es ist eine Szene aus Sternenstaub, doch diesmal aus einer anderen Perspektive.
Ich setze darum auch einen SPOILERALERT, denn ihr könntet euch das Ende der Trilogie vorwegnehmen, wenn ihr sie noch nicht kennt.
Geschrieben habe ich sie, um einen Schluss unter den Charakter-Bogen meiner ewigen Herrin zu ziehen. Gwendolyns Geschichte erzähle ich in „Das Herz des blauen Drachen“. Ihr Ende ist also kein Geheimnis und ihr nehmt euch nicht den Spaß an der kommenden Trilogie, wenn ihr die Geschichte lest. 🙂
Aber nun genug der Worte. Ich hoffe, ihr mögt es.
Der Glanz der Sterne
Gwendolyn war derweil im Turmzimmer angelangt. Sie bat die Wachen, die Türen für sie aufzuschließen, und gab genaue Anweisungen, in welchem Fall sie hereinkommen und nach dem Rechten sehen sollten. Als sie den Schlüssel hinter sich im Schloss wieder kratzen hörte und der Riegel vorgeschoben wurde, sah sie in Fenais Gesicht. Diese schien etwas überrascht von ihrem Auftauchen und doch, wirkte sie ganz anders, als noch am Tag zuvor. Argwöhnisch setzte sie sich auf ihrem Lager auf und ihre Blicke trafen sich, hielten aneinander fest.
Gwendolyn fühlte sich unbehaglich. Eindringlich musternd wanderten Fenais Augen an ihr herab, blieben bald hier, bald da hängen. Ihre Augenbrauen hoben und senkten sich, als entdecke sie immer wieder überraschend Neues in ihren Zügen.
„Geht es dir nicht gut, Gwen?“, entfuhr es ihr urplötzlich, obwohl ihr doch eigentlich ganz andere Sorgen auf der Seele brennen mussten.
„Wieso meinst du?“ Gwendolyn blieb skeptisch und reserviert. Was für ein Spiel spielte das Mädchen, das sie leichtfertig durch die Nebel gerufen und zur Königin gemacht hatte? Dabei beobachtete sie jede Geste und jede Gefühlsregung in Fenais Gesicht. Ihr Blick war klar und entbehrte völlig den Glanz des Wahnsinns, der sich die letzten Wochen so tief hineingefressen hatte.
War es das, was Arn gesehen hatte? Immerhin war der Erûor der Einzige gewesen, der noch in ihrer Zelle aufgesucht hatte. Allen anderen war es durch Dûrowinns Erlass seit Beginn der Ratstagung verboten gewesen. Fenai zuckte ratlos mit den Schultern und Gwendolyn brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es wohl als Antwort auf ihre Frage gemeint war.
„Weiß nicht. Du wirkst müde.“
In der Tat, stellte Gwendolyn fest. Sie war entsetzlich müde. Halt! – Eine warnende Stimme meldete sich zu Wort. War das ein dunkler Zauber, den Fenai um sie spann?
Sie versuchte, die Gedanken ihres Gegenübers zu erkunden, und war erstaunt, sie offen vorzufinden wie ein aufgeschlagenes Buch. Daraus schlug ihr tatsächlich nur ernst gemeinte Sorge entgegen. Nicht nur um sie, sondern auch – vor allem – um die Eltern, von denen sie nichts mehr gehört hatte, seit diese Talveymar vor Monden verlassen hatten. Ein Gedanke begann sich mit dieser Erkenntnis in Gwendolyn breit zu machen, den sie noch nicht in Worte fassen konnte. Er war aber mächtig genug, sie in ein Gefühl, warmer Vertrautheit zu hüllen, wie sie es seit unendlichen Jahren nicht mehr gefühlt hatte.
„Wir haben dich eingesperrt, dich verhört, ohne Rücksicht darauf, wie es dir geht oder was unsere Fragen mit dir machen, welche Erinnerungen sie wachrufen. Und jetzt ist deine einzige Sorge, was mit mir ist, was aus deinen Eltern geworden ist?“
Ungläubig starrte sie Fenai an. Bildete sie es sich ein oder trat mit dem beschämten Lächeln, welches der jungen Frau übers Gesicht huschte, auch plötzlich ein undefinierbares Leuchten in ihre Züge?
„Ich verstehe es nicht“, gab Gwendolyn verwirrt zu. „Wie kann es sein, dass dich all das nicht grollen lässt gegen uns. Wir haben dir jedes Vertrauen entzogen, dir das Schlechteste unterstellt. Wir würden soweit gehen, dich zu töten, wenn etwas uns glauben ließe, dass es der einzige Weg sei, Erui vor dem Schlimmsten zu bewahren.“
Fenai nickte daraufhin. „Ich weiß“, antwortete sie schlicht. Gwendolyn blieb unfähig, etwas zu antworten und hörte ihr einfach nur zu. „Ver… versteh mich nicht falsch, Gwen. Es ist nicht schön und ich begrüße nicht, dass alles so gekommen ist. Aber weißt du, ich habe Dinge gesehen, gegen die scheint mir der Tod eine vergleichbar sanfte und friedliche Wahl. Keine Strafe. Verstehst du?“
Keine Strafe. Oh ja! Sie verstand. Besser vermutlich als jedes andere Wesen in Erui verstand sie. Sie, die dazu verdammt worden war, auf dieser Welt zu bleiben, sie durch die Dunkelheit zu führen immer wieder. Sie, die mehr Leid und Grausamkeit hatte mitansehen und ertragen müssen als irgendwer sonst. Natürlich verstand sie, dass man den Tod als Erlösung herbeisehnen konnte.
Fenai sprach derweil weiter, schien sich nicht bremsen zu können.
„Es gibt so vieles, worüber man sich aufregen könnte. So viele Gründe, warum man jemandem grollen kann. Doch sollte ich wirklich böse sein dafür, dass ihr versucht, das zu schützen, was ihr liebt? Ich würde es nicht anders machen, wenn ich könnte. Und bei Gott, ich könnte nicht schwören, dass ich an eurer Stelle anders gehandelt hätte. Ich selbst habe nicht die Macht, mich dem Schatten zu widersetzen. Noch nicht. Und vielleicht werde ich sie nie haben. Wie kann ich da von anderen verlangen, mir zu vertrauen?
Ich bitte dich nur um eine Sache. Was auch immer aus mir wird, so können meine Eltern doch am wenigsten dafür. Sie verstehen ja kaum, was um sie herum geschieht oder weshalb. Die Wege Eruis sind ihnen nicht vertraut und ich bin ihnen gänzlich fremd geworden. Wenn sie also vielleicht schon ihre Tochter verlieren, auf welchem Weg auch immer, sei du bitte für sie da. Bestrafe sie nicht, sondern hilf ihnen darüber hinwegzukommen, es zu verstehen, wenn es keinen anderen Weg mehr geben sollte. Ja?“
Jetzt war Gwendolyn völlig sprachlos. Für einen Moment fühlte sie ein wildes Pochen in ihrer Brust. Sie legte die rechte Hand darauf. Schwindel griff nach ihrem Kopf. Sie musste sich setzen. Fürsorglich schob Fenai ihr einen Stuhl hin. Gwendolyn fragte sich ernsthaft, ob sie träumte. Sie wusste, dass ein winziger, kaum mehr vorhandener Teil ihrer selbst doch noch auf ein Wunder gehofft und für eines gebetet hatte.
War es das hier? Dieses Menschenkind, das durch die Hölle und zurück gegangen war, das bar jeden Vertrauens dazu in der Lage war, sich selbst als potentielle Gefahr zu erkennen, und denen nicht zürnte, die sie vielleicht zu Unrecht vorverurteilt hatten?
Sie war in der Lage in einer solchen Situation nicht an sich und ihr Schicksal, sondern an das derer zu denken, die ihr am nächsten standen. Das Blut begann nun auch in ihrer Schläfe zu pulsieren. Eine plötzliche Unruhe erfüllte sie.
Waren das da gerade Schreie auf der Treppe gewesen?
Gwendolyn schüttelte den Kopf. – Blödsinn! – Sie sah erneut zu Fenai, die sie mit wachsender Besorgnis ansah. Dann aber erschauderte der schmale Körper vor Gwendolyn und sie konnte sehen, wie sich mit der Kälte, die auch sie zum zittern brachte, der Schleier der Verblendung wieder vor den Geist der jungen Frau schob. Fenais Gedanken drifteten fort. – Dunkelheit, wusste Gwendolyn augenblicklich, noch bevor sie sich in die Gedanken ihres Gegenübers schob. Dunkelheit kroch von außen herein. Der Lärm vor der Tür war real.
Gwendolyn wollte sich erheben und nachsehen, doch als sie ihrem Körper befahl, aufzustehen und die wenigen Schritte zur Tür zu treten, gehorchte er nicht.
Fenai schien mittlerweile weit fort zu sein. Sie bebte und leises Wimmern und Schluchzen kam über ihre Lippen, wohl ohne, dass sie es merkte. Die Schattenflamme quält sie, erkannte Gwendolyn, und war selbst überrascht, wie unberührt sie davon blieb. Sie sah zur Tür, dann wieder zu Fenai, die ihr den Rücken zugewandt hatte. Sie selbst spürte die Kälte zwar, doch konnte sie nicht durch diesen warmen goldenen Nebel gelangen, der um sie lag und so traf der Schrecken der Erkenntnis sie auch nur langsam.
Gegen das Dröhnen ihres Schädels und das Rasen ihres eigenen Herzens ankämpfend, erhob sie sich schließlich. Sie ging zu Fenai und legte ihr beruhigend die Hand auf die glühende Stirn. Sofort wurde sie hineingerissen in das Chaos an Bildern. Wieder klang wie durch Watte dieser Kampflärm zu ihr durch. Es musste tatsächlich unmittelbar vor der Tür zu sein, und doch … Waren das nicht doch die Klänge aus Fenais Erinnerungen?
***
Das Schwertgeklirr war deutlich zu vernehmen und Fenia blickte erschrocken auf. Sie wusste, dass er Wachen vor ihrer Tür postieren ließ, doch nie zuvor waren diese in Streit geraten. Jetzt hörte sie erstickte Schreie und bildete sich auch ein, das Fallen schwerer Körper wahrzunehmen. Ein Schleifen folgte. Dann wieder Totenstille. Endlose Minuten geschah nichts, bis sich die Tür aufschob.
‚Bitte nicht!‘, schoss es durch ihren Kopf.
Sie hatte inständig gehofft, er würde sie noch eine ganze Weile von seiner Anwesenheit verschonen. Ihr Herz begann zu zittern. Sie richtete sich auf und wich zurück, bis sie an die Kante des Himmelbettes stieß. Ihre Arme spannten sich in den immer noch glühenden Ketten.
Sie wollte nicht, konnte nicht. Nicht so kurz hintereinander. Bitte! Ihre Hände krampften sich zusammen. Sie machte sich auf das Schlimmste gefasst. Die erwartete Kälte blieb allerdings aus. Der Schemen, der sich durch die Tür schob, groß, breitschultrig, die Hand an seinem Schwertknauf, war nicht der Schattenfürst.
Fenia sah an sich herab. Fragte sich, ob sie träumte. Der Schmerz in ihren Rippen, die mit Sicherheit gebrochen waren, gab ihr allerdings die Gewissheit, dass sie wach war.
Sie sah auf. Die Gestalt schaute sich suchend um, schlich auf Zehenspitzen einen Schritt weit in den Raum. Er konnte sie noch nicht gesehen haben. Er ging an einer der dunklen Fackeln vorbei und ihr Schein erhellte ein vertrautes Gesicht, traf blondes Haar.
Er wandte sich um, sah sie am Boden liegen und brauchte keine drei Schritte, um bei ihr zu sein. Sie spürte ein Leuchten, das ihr Gesicht und ihren Körper streifte. „Lew?!“, hauchte sie ungläubig.
Sanfte Hände strichen über ihre blutunterlaufenen Wangen und ihre blaugeprügelten Schultern. Dann zog er sie in seine Arme und das Licht umfing sie ganz.
„Schschsch, … mein Engel. Alles wird gut. Ich bin jetzt bei dir.“
Fenia spürte, wie sie vor Erleichterung drohte, ohnmächtig zu werden, doch das tiefe Mitternachtsblau in seinen Augen gab ihr Halt.
***
Es war das Licht, das Gwendolyn aus der Erinnerung zurückkehren ließ. Sie starrte völlig entgeistert in das Gesicht vor sich. Eine Ahnung von tiefer Ruhe und Frieden hatte sich um Fenais gehetzte Augen gesammelt. Gwendolyns Ahnung wurde stärker. Suchend sah sie zu ihrer linken Hand. Tatsächlich steckte ein goldener Ring daran. Wie hatte ihr das bloß die ganze Zeit entgehen können?
Sie atmete tief ein. Ein Stich in der Brust ließ sie zusammenfahren. Die Lösung war so einfach gewesen!
‚Verstehst du es nun endlich, meine Tochter?‘, hörte sie ein Flüstern, was sie in all den Jahren als Herrin so schmerzlich vermisst hatte. Einzelne Tränen drangen in ihr empor.
‚Ja‘, dachte sie. ‚Ja, ich verstehe es. Du hast nie geschwiegen. Du warst immer bei mir. Aber ich … ich wollte es nicht hören. Ich wollte nicht, dass die Welt so ist, wie sie ist, weil ich glaubte DU hast sie zu dem gemacht. Dabei …‘
„Gwen, was ist mit dir?“ Es war nun Fenia, die nach ihrem Arm griff, sie zu stützen versuchte, denn urplötzlich wollten ihre Beine sie nicht mehr tragen. Sie griff sich an die Brust und sank zusammen.
„Gwen, Hörst du mich? Was hast du denn?!“
Gwendolyn spürte es nun selbst ganz deutlich und hätte lachen und den Kopf über sich selbst schütteln können. Vor Wochen schon hätte sie es merken müssen. Vor Wochen schon hatte sich alles verändert.
‚Die Menschen neigen dazu, sich selbst die größten Lügen zu erzählen, nur um von ihrem Glauben nicht abweichen zu müssen, mein Kind‘, flüsterte die Stimme weiter. Das goldene Licht, das Fenia umgab, wurde stärker und stärker mit jedem Wort. ‚Und weil wir die Träume der Menschen sind, geschaffen nach ihrem Bilde, so wie du sie geschaffen hast …‘
‚Seid auch ihr ebenso fehlbar. Ja. All die Zeit hatte ich gehofft. All die Zeit wollte ich, dass du es siehst. Du, die mich einst darum bat, den Sinn hinter allem zu begreifen. Ich habe dir diesen Wunsch gewährt und ich hoffte in deinem ersten Leben immer, du würdest es schneller sehen. So viel Leid, das du ertragen hast, und dennoch hat es dich immer wieder auf den einen richtigen Pfad zurück gezogen. Doch jedesmal …‘
‚… habe ich ihn verlassen aus Angst. Die Angst, sie an den Frost zu verlieren, hat mir meine Brüder genommen. Die Angst, immer allein sein zu müssen, allein und unverstanden, hat mich in Mendrics Arme geführt, obwohl ich wusste, dass kein Kind von uns lebend geboren werden kann. Ich habe die Bilder von Schmerz und Schatten nicht mehr sehen wollen, aus Angst, sie würden nie enden, dabei hast du immer versucht, mir das hier zu zeigen. Mir SIE zu zeigen.‘
‚Ja. Es war dein Wunsch. Dein ureigener Wunsch. Ich wollte dich nicht leiden lassen und dich nicht verfluchen. Doch die Menschen haben es so geträumt und du hast den Spruch selbst gesprochen.‘
‚Dann hast du die anderen nur mit mir gemeinsam verflucht, damit ich nicht allein sein muss?‘
‚Nein. Mendric blieb aus Liebe an deiner Seite. Seine Gefühle waren immer echt.‘
‚Und Luani und Ariman?‘
‚Es ist Gesetz in Erui, dass der Zirkel der Wächter nicht brechen darf. So haben es die Menschen geträumt.‘
‚Ist denn dann gar nichts auf der Welt je dein Zutun gewesen? Bist du so machtlos, seit du die Welt in Gang gesetzt hast?‘
Das Leuchten krümmte sich, als würde es lachen.
‚Gwen, du zweifelst ja immer noch. Ich habe meiner Schöpfung einen freien Willen geschenkt. Was wäre dieses Geschenk wert, wenn ich immer und immer wieder eingreifen würde?‘
‚Aber sie …‘
‚Ich wusste, dass sie geboren werden würde. Denn eins in diesem Universum ist sicher: Das Licht ist immer so hell, wie der Schatten dunkel ist. So habe ich es am Anbeginn aller Tage geträumt. Damals, als nur Dunkelheit war. Ohne sie, kann man das Licht nicht sehen, nicht wertschätzen. Ohne Leid und Schmerz, was ist Liebe und Güte wert, wenn sie selbstverständlich sind? Nein, lass mich erklären. Ich weiß, dass ich damit eine Welt schuf, in der Leid überhaupt erst möglich ist. Aber kannst du dir eine Welt ganz ohne das vorstellen? Wie lange erträgt eine sterbliche Seele reines Glück? Wie lange Frieden und die Freiheit alles zu sein, was immer sie will? Würde sie nicht Krieg gegen sich im eigenen Kopf beginnen?‘
‚Aber was ist dann der Sinn hinter allem?‘
Das Leuchten wurde noch einmal stärker. Gwendolyns Gedanken schwiegen einen Augenblick und der Kampflärm vor der Tür drang wieder zu ihre durch. Richtig. Ihr Weg war hier zu Ende. Sie hatte es nun verstanden. Aber Fenai noch nicht. Sie musste es ihr sagen. Sie musste sie wissen lassen, dass alles schon geschehen war, dass sie Erui doch schon gerettet hatte. Alles war gut. Sie würde sterben. Endlich.
„Du kannst mir nicht mehr helfen, Fenai“, brachte Gwendolyn zwischen zwei trockenen Hustern hervor. „Nicht, wenn wirklich das geschehen ist, was ich nun ganz fest glaube.“
„Aber was soll denn geschehen sein?“
Gwendolyn fühlte wie unter Fenais Händen Wellen heilender Magie durch ihren Körper gepumpt wurden. Sie versuchte alles, um das Leben in ihrem gebrechlichen Körper zu halten.
“Gwen, ich kann nichts machen. Meine Magie wirkt nicht“, rief sie verzweifelt und Tränen überschwemmten ihre Augen.
‚Den Sinn siehst du doch. Spürst ihn doch, mein Kind.‘
Gwendolyns Lächeln wurde immer breiter.
„Es bedarf nur eines Priester und einer Priesterin“, murmelte sie, „nur diese beiden, um das heilige Band zu knüpfen. Aber was erzähle ich das dir?“ Für einen Augenblick schaffte sie es noch einmal, Fenai zu fixieren. „Ihr habt dort, am Fuß der Schattenfeste, den alten Schwur geschworen und einander das ewige Versprechen gegeben, nicht wahr?“
‚Du darfst es zulassen. Du darfst vertrauen. Du darfst …‘
‚sie sogar lieben, ich weiß. Ich habe es vom ersten Tag an, da ich sie in meiner Vision sah. Es war, als hielte ich noch einmal ein Kind im Arm. Ein Kind, das ich lieben wollte, doch ich hatte Angst, meine Gefühle würden mich schwach machen. Angst … immer so viel Angst. … auch jetzt … ich habe Angst um sie.‘
‚Das musst du nicht. Du hast es doch selbst gesagt: sie hat das Band geknüpft. Das eine, stärker als alles, was ich auf dieser Welt erschaffen habe. Es wird sie bewahren.‘
‚Das ist gut. … Denn ich … ich kann es nicht mehr.‘
‚Ich weiß. Aber das war auch nie deine Aufgabe. Du solltest sie nur sehen. Nur lieben dürfen.‘
„Ja, aber das spielt doch jetzt gar keine Rolle. Gwen, du brauchst Hilfe!“
Das letzte Wort schrie Fenai so laut, dass man es vor der Tür hören musste. Vielleicht ging es aber auch in dem allgemeinen Gelärme unter.
„Nein, … nicht. Ich sterbe, Fenai. Aber ich gehe nun in dem Wissen, dass ich dir Unrecht getan habe. Wenn du noch etwas für eine alte Frau tun willst, dann sei so gut und verzeih mir. Bitte.“
So wie ihr Lächeln stärker wurde, so wurden ihre Worte schwächer. Das Licht hinter ihren Lidern wurde noch einmal strahlender.
„Nein, nein, nein! Gwen, du kannst gar nicht sterben. Du bist eine Ewige Wächterin. Du wirst noch viele hunderttausend Jahre alt werden.“
„Du weißt, dass ich das nicht werde, … weil du es wirklich bist. … Ich sehe ihn nun in dir, den Zauber von Edin. Es war so einfach. Du hast ihn mir immerzu vor Augen gehalten.“
Bei diesen Worten ging ein Zittern durch ihren Körper. Plötzlich sah sie, wie sie selbst in Fenais Armen erschlaffte. Dabei stand sie doch hier, genau hinter ihr. Sie legte ihr eine Hand auf die Schulter, denn sie hätte sie so gern noch so viel wissen lassen.
‚Ich hätte es einfach nur annehmen müssen. Annehmen, dass ich nicht Schuld war, dass ich nur ein Kind war und dass ich schon damals an der Seite des Drachen Liebe hätte finden können. Aber was dann? Wäre dann alles anders gekommen? Wäre sie dann nie geboren worden? Hätte ich deine Stimme nicht überhört und nicht immer wieder meine eigenen Gesetze aufgestellt, hätte ich sie dann jemals getroffen?‘
‚Ach Gwen, Sieh noch einmal hin. Ich bitte dich. Du hast in deinem letzten Atemzug verstanden, was es bedeutet zu lieben, doch weil du schon immer warst, wie du bist, zögerst du sogar jetzt noch das Unvermeidliche hinaus. Hast du so viel Angst vor dem Licht, das auf dich wartet? So viel Angst, dass du ein Letztes nicht tun kannst?‘
Gwen war einen Augenblick verwirrt. Hier stand sie nun, hatte die Wahrheit erkannt. Liebe war die größte Macht im Universum und in dieser Welt, in der die Gefühle der Menschen Form und Gestalt hatten, war sie in der Lage alles zu ändern, war sie mächtig genug, die ganze Welt aus den Angeln zu heben und dennoch …
„Gwen, ich verzeihe dir alles, aber bitte, bitte, geh nicht. Bleib hier. Bitte, wir brauchen dich doch! Ich brauche dich noch. Ich weiß nicht einmal, wovon du sprichst!“
Als Fenais letzte Träne ihre Wange traf, fiel auch die letzte Erkenntnis in Gwendolyns Herz und befreite es von der uralten Last. Als ihre Geist sich erhob, Abstand nahm von der Geschichte, in der sie selbst nur ein kleines Zahnrad gewesen war, rauschte noch einmal jeder Augenblick ihres Lebens an ihr vorbei. Sie blickte auf das Gestern, das Heute und das Morgen, wie sie es so lange und so oft getan hatte, doch zum ersten Mal sah sie, wie sich die Puzzlestücke über die Jahrtausende gesammelt hatten.
‚Wenn die tiefblaue Mitternacht den goldenen Morgen küsst…‘, umgab sie das Flüstern der alten Worte, während ihr Geist sich dem Licht zuwandte. Das Zeitalter der Legenden hatte sein Ende gefunden in einem Kuss, der eigentlich unmöglich war.
‚Aber was geschieht dann?‘
‚Gwendolyn, du lässt ja immer noch nicht los.‘
‚Nein, nein, aber diesmal nicht, weil ich Angst habe, zu versagen. Ich bin nur neugierig.‘
Das Leuchten um sie her vibrierte wie ein warmes helles Lachen. Sie tat den letzten Schritt, stieß die Tür auf, hinter der es nur noch Licht gab, doch bevor sie hindurch trat, warf sie einen letzten Blick über die Schulter. Überrascht stellte sie fest, dass sie nicht mehr auf das Zimmer im Turm blickte. Stattdessen stand Fenai auf einer Wiese, um sie ein Trümmerfeld und vor ihr eine Gestalt, die Gwendolyn sich in ihren schlimmsten Alpträumen nicht hätte vorstellen können. Doch auch diesmal hatte sie keine Angst. Sie ahnte, was folgte. Als die Funken, die Fenais letzter Zauber entließ schließlich die Herzen der Magischen trafen, verschmolz der Geist der Ewigen Herrin mit dem allgegenwärtigen Licht und für Gwen gab es kein Leid und keine Fragen mehr. Nicht einmal mehr Neugier, denn im Glanz der Sterne, zu dem sie selbst geworden war, lag die Wahrheit und Weisheit aller Welten verborgen.