– Heimkehr –
Nebel.
Blicke verlieren sich darin. … Alles verzerrt, verschwommen.
Graue Unwirklichkeit.
Licht ohne Schatten; Schatten ohne Licht.
Verwischte Stimmen.
Gesichter ohne Kontur.
Die Welt verschwindet.
Kühle Feuchte durchdringt die Glieder.
Laufen durch nasses Gras, … oder Watte, … oder Wolken?
Man verirrt sich – verliert sich; verliert andere;
Die Welt verliert einen.
Gedanken treiben davon … mit dem Nebel.
Wohin?
Fremde Orte, wo sie weilen.
Leuchtende Wiesen und Wälder – erdacht von Träumern.
Schattige Schluchten – Abgründe menschlicher Seelen.
Hinter dem Nebel können sie bleiben.
Dort schaden sie nicht.
Fortgedacht aus dieser Welt.
Nebel
1.
Bleiern und schwer hingen Daves Gedanken in der Luft, wie die Nebelschwaden, die mit jedem anbrechenden Tag vom Ufer des Flusses durch die Wiesen heraufgekrochen kamen. Sie klopften mit feuchten, kalten Fingern an die Scheiben der Terrassentür, krochen bis hinauf zum Balkon des Schlafzimmers im ersten Stock und riefen ihn wach. Zuverlässig. Jeden Morgen.
Er löste sich aus der Umarmung seiner Frau, die wie immer im Tiefschlaf neben ihm lag, ihr Gesicht an seine Schulter gelehnt. Ein Griff zum Morgenmantel und leise, wie ein Dieb in der Nacht, huschte er aus dem Zimmer.
Die Kinder waren nicht da. Ihre Türen standen offen. Kevin war zum Studieren weggezogen. Daran würde Dave sich noch gewöhnen müssen. Sara war mit einer Freundin nach Frankreich gefahren. Sprachreise. Übermorgen kam sie wieder. 20.30 Busbahnhof. Nicht vergessen!
Die alten Holzstufen knarrten unter seinen Schritten, erinnerten ihn daran, dass sie gerichtet werden sollten, schon seit sie vor fünfzehn Jahren in dieses Haus eingezogen waren.
„Im nächsten Frühjahr ist es das Erste, was ich mache.“
Jedes Neujahr derselbe Satz. Seit fünfzehn Jahren.
Wenige Schritte noch, dann stand er an der Tür. Die Sonne begann gerade hinter der Biegung des Flusses aufzugehen und schickte ein diffuses goldenes Glitzern durch die nassen Nebelfetzen und ließ die knorrigen, alten Apfelbäume zwischen den dünner werdenden Schleiern wie grotesk verkrümmte Riesen emporragen.
Ein pelziges Etwas huschte durch die krummen Zweige von Baum zu Baum; vielleicht ein Eichhörnchen oder eine zierliche Katze. Ein Kauz schrak auf, als das wuselnde Ding seinen Zweig erreichte und verschwand im nächsten Augenblick ebenfalls als verschwommener Schatten in den Tiefen des Nebels.
Die Eule, die am nahen Waldrand wohnte, ließ ihren letzten Ruf erklingen, bevor sie sich zur Tagesruhe begab, und die Rehe auf der großen Wiese hoben alarmiert den Kopf. Lange würde ihr Frühstück jetzt nicht mehr dauern.
Dave trat mit demselben ehrfürchtigen Staunen auf die Stufen der Veranda, wie jeden einzelnen Morgen der vergangenen fünfzehn Jahre, und betrachtete das Schauspiel des erwachenden Tages. Dafür hatte er die alte Mühle am Rand des winzigen Dorfes damals überhaupt gekauft. Er liebte die Einsamkeit, auch wenn seine Kinder ihn deswegen ab und an verfluchen mochten. Diese morgendliche Stille, die nur bei Regen ausblieb, war für ihn die beste Zeit des Tages. Die Welt selbst deckte sich dann für eine Weile zu. Sie hielt den Atem an und lauschte, lauschte den vielen Geschichten, die sie schon erlebt hatte, und denen, die sich gerade anbahnten.
Vor langer Zeit, in einem anderen Leben, als er noch kein braver Ehemann und Familienvater gewesen war, hatte einmal jemand zu ihm gesagt:
„Der Morgennebel nimmt allem, was lebt und in Bewegung ist, die Sicht auf die Welt. Sogar die Zeit, die immer rastlos und ruhelos ist, wird für einen Augenblick blind und hält an, um ihren Weg nicht zu verfehlen. In dieser Stunde ist alles auf einmal da: das Gestern, das Heute und das Morgen, und wer fähig ist, still und bewegungslos zu werden und zu horchen, der erhascht so manches Mal einen Blick darauf.“
Ein Lächeln flog bei der Erinnerung an vergangene Zeiten über sein Gesicht, bis eine Parkettbohle hinter ihm knarrte und das Geräusch ihn herumfahren ließ.
„Na, hat der frühe Vogel schon etwas gefangen?“
Verschlafen tappte seine Frau durch das Wohnzimmer in die Küche. „Wenigstens Kaffee hättest du anschalten können.“
Schranktüren wurden mit lauterem Klappern als notwendig geöffnet und jedes weitere Geräusch aus der Küche verriet Caitlins Unmut.
Dave versuchte, sich davon nicht ablenken zu lassen, sah der Sonne dabei zu, wie sie die letzten hartnäckigen Schleier aus den Ästen der Bäume fegte und sie wie tanzende Nymphen in die Luft trieb.
„Wo sind denn die neuen Papierfilter?“
„Hab gestern vergessen einzukaufen!“
„Och Dave!“
Schuldbewusst zu Boden blickend wandte Dave sich endgültig von dem einmaligen Schauspiel vor dem Haus ab und schlurfte, nun ebenfalls gähnend, in Richtung Küche. Da nahm er aus den Augenwinkeln plötzlich Bewegung im Garten wahr. Einen Moment zu spät trat er zurück an die Tür.
Hatte er sich das nur eingebildet?
Seine Augen wollten ihm weismachen, eine menschliche Gestalt draußen im Nebel gesehen zu haben. Sie war mit den letzten grauen Schwaden plötzlich zwischen den Bäumen aufgesprungen und in Richtung Wald davon geeilt.
„Dave! Hörst du mir überhaupt zu?“
Caitlin stand mit den Händen in der Hüfte in der Wohnzimmertür und funkelte ihn wütend an. Er warf noch einmal einen Blick über die Schulter. Nichts zu sehen.
„Du solltest doch mittlerweile jedes verdammte Blatt in diesem Garten mit Namen kennen! Was ist denn so schwer daran, sich einmal davon loszureißen und mir wenigstens zuzuhören? Du warst gestern nun einmal mit Einkaufen dran. Ich habe dir den Zettel extra noch an die Pinnwand gehängt; und wo finde ich ihn grade?! Kannst du dich nicht einmal wie ein normaler Mensch benehmen? Ich verstehe ja, dass ich mir darüber hätte Gedanken machen können, als ich mich entschieden habe einen Schriftsteller zu heiraten. Aber auch geistige Koryphäen müssen essen und trinken und aufs Klo gehen, und ohne Klopapier wird zumindest das ziemlich unangenehm.“
Er kannte ihre Schimpftiraden und wusste, es war am besten, sie einfach über sich ergehen zu lassen. Er würde sich in einer Stunde ins Auto setzen und die zehn Kilometer zum nächsten Supermarkt fahren, ihr einen Strauß Blumen vom Geschäft direkt gegenüber mitbringen und dann würde sich ihre Laune schon wieder bessern.
Er konnte sich noch an Zeiten erinnern, in denen sie nicht so gereizt gewesen war. Doch der berufliche Erfolg innerhalb der letzten vier Jahre, die Teilhaberschaft an der Kanzlei und der dadurch bessere Verdienst, hatten nicht nur Caitlins Zeit immer weniger werden lassen. Auch die Tage, an denen sie gute Laune hatte, waren selten geworden.
So war das eben, wenn man im Leben etwas erreichen wollte. Es konnte nun mal nicht jeder das Leben eines verträumten Autors mittelalterlicher Kriminalromane leben.
Noch viel früher, als er Caitlin nicht einmal gekannt hatte, hätte auch er sich sein jetziges Leben nicht in seinen abwegigsten Träumen vorstellen können. Niemals hätte er geglaubt, dass er einmal eine Frau treffen würde, die unbedingt arbeiten gehen wollte, die Hosen trug und einem gestandenen Kerl wie ihm die Meinung sagte. Nicht im Entferntesten hätte er daran gedacht, dass er einer solchen Frau jemals einen Heiratsantrag machen würde – und erst recht nicht, dass sie ihn beim ersten Mal ablehnen würde!
Sein Leben war klar gewesen. Gerade. Dass es Aufs und Abs gab, hatte sein Vater ihn gelehrt. Nur von den vielen versteckten Seitenwegen, auf die das Leben einen führte, von dem Links und Rechts des Wegrandes, hatte er nie gesprochen.
Ob es sich so allerdings besser oder schlechter lebte, vermochte Dave selbst nach zweiundvierzig Jahren noch nicht zu beurteilen. Er lebte anders, als er es wohl getan hätte, wenn er zu Hause geblieben wäre.
Während er vor sich hin sann und achtlos den Honig neben sein Brötchen tropfen ließ, wanderten seine Gedanken zu seinem Vater und seinem Bruder, und zu dem gefälschten Ausweis auf den Namen ‚David Vindour’ in seinem Portemonnaie, auf dem sein ganzes Leben hier begründet lag.
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